„Rama ist der göttliche Funke in jedem Wesen.Rama bedeutet‚ das, was Glückseligkeit vermittelt‘. Und was könnte größeres inneres Glück bringen als die göttliche Wirklichkeit in uns? Rama ist dieses innere Glücksbewusstsein. Man kann das Ramayana nur verstehen, wenn man sich dessen bewusst ist.“
Sai Baba, 25. April 1962
Wörtlich verstanden handelt es sich beim Ramayana um eine spannende abenteuerreiche Erzählung, in der Rama, Sita, Lakshmana, und Hanuman gegen die Dämonen kämpfen und schließlich den „bösen“ Ravana in einem großen Krieg besiegen. Allegorisch gesehen steht aber Rama für das höchste Selbst, den Atman, unser wahres „Ich“, während Ravana das Ego verkörpert, ein „zehnköpfiges Ungeheuer“ (Wenn nur ein Haupt abgeschlagen wird, erhebt sich sogleich ein anderes!). Sita ist das „Gottesbewusstsein“ (brahmajnana) , das von Ravana, dem Ego, entführt wird und zurück erobert werden muss. Sita verkörpert aber auch Prakriti, die Natur, die sich mit Rama, dem Purusha oder Paramatman verbunden hat. „Sie ist“, so sagt Baba, „Mayashakti, die Energie, welche durch ihre Schwingungen Materie bildet und ihr Formen verleiht, Formen, die durch ihre Vielfalt täuschen und durch ihren Zauber die Menschen gefangen halten. Sita sagte, dass das Ramayana nichts anderes sei als ein Spiel, das sie selbst entworfen habe …“ (aus der Ansprache am 25. April 1962) Lakshmana steht für den Intellekt, Hanuman für den Mut und so weiter. Jede Figur verkörpert etwas, das wir auch in uns selbst wiederfinden können. „Dasharatha versinnbildlicht den Körper mit den zehn (dasha) Sinnesorganen (fünf wahrnehmende und fünf handelnde). Die drei Grundeigenschaften des Menschen, Sattva, Rajas und Tamas, sind die drei Königinnen. Die vier Lebensziele, Rechtschaffenheit (dharma), Wohlstand (artha), Begierde (kama) und Erlösung (moksha), sind die vier Söhne. Die ‚Brücke‘ (nach Lanka) wird über den Ozean der Verblendung gebaut…“ - So gibt es für jede Person, für jedes Ereignis auch einen Schlüssel zum tieferen Verständnis.
Auf der pädagogischen Ebene ist das Ramayana in jeder Beziehung eine Anleitung, gut zu sein, gut zu handeln, dem Dharma zu folgen, das Richtige zu tun, sich Gott und der Gerechtigkeit zuzuwenden und so weiter – ein Ideal und ein Wegweiser für die ganze Menschheit. „Keine andere Erzählung in der ganzen menschlichen Geschichte hat einen so tiefgreifenden Einfluss auf das Bewusstsein des Menschen gehabt“ schreibt Kasturi im Vorwort zu seiner Übersetzung. Und tatsächlich war das Ramayana schon vor langer Zeit nicht nur in ganz Indien verbreitet, sondern auch in Thailand, Indonesien, Kambodscha und vielen anderen Ländern. Und heute kennt man es in der ganzen Welt.
Einige Ereignisse in dieser Geschichte sind, wenn man sie nur auf der wörtlichen Ebene betrachtet, nicht leicht zu verstehen und zu akzeptieren: Warum zum Beispiel ist Rama nicht umgekehrt, als ihn sein verzweifelter Vater zurückrief? Und hat dem Wagenlenker sogar noch befohlen, zu sagen, er hätte es nicht gehört? Warum hat er nicht verhindert (was er sicherlich mit Leichtigkeit hätte verhindern können), dass Sita entführt wurde? Und eines der größten Rätsel: Warum wird Sita, die „Verkörperung der Reinheit“, trotz ihrer bewiesenen Unschuld am Ende doch verbannt? Diese letzte Frage hat schon viele Leser des Ramayana tief bewegt (wenn nicht sogar zur Verzweiflung gebracht). Ganz anders könnte man jene Episode aber verstehen, wenn man bedenkt, dass Sita eben die Materie – Prakriti – verkörpert, und Rama den Atman, die Seele, das wahre Selbst… In Babas Ansprachen, in den Gesprächen mit John Hislop, in der „Sathyopanishad“ („Zu Füßen des Meisters“) und in den Vāhinīs findet man eine Fülle von Antworten auf diese Zweifel und Fragen, denn immer wieder zieht Baba die Figuren und die Geschehnisse des Ramayana heran, um spirituelle Zusammenhänge zu erläutern und anschaulich zu machen. So wie wir bei einer Mangofrucht zuerst die ungenießbare Schale und den Kern entfernen müssen, um den kostbaren Saft der süßen Frucht zu genießen, so sollten wir auch beim Lesen des Ramayana alles schwer Verständliche, scheinbar Widersprüchliche und so weiter beiseite lassen, um uns an der göttlichen Liebe und Wahrheit, die aus allen Kapiteln des Buches leuchten, zu erfreuen. Wir sollten, wie Baba sagt, „die Essenz des Mitgefühls aufsaugen, von dem das Ramayana durchdrungen ist, und dem Rest keine Bedeutung beimessen“ (Die Geschichte von Rama, Kapitel 1) . „Es ist nur eure Unwissenheit, wenn ihr Gott (Rama) einen Fehler anlastet. Gott ist selbstlos, und was auch immer er tut oder sagt, hat eine Bedeutung und vermittelt eine Botschaft…“ (Sathyopanishad)