Monkey Mind

Phyllis Krystal

Den Verstand bändigen

 

4. überarbeitete Auflage 2013, 272 Seiten, broschiert

Bestell-Nr. 3081

ISBN 978-3-932957-83-3

 

 

Kapitel 23

Spiritueller Striptease

 Bevor wir daran gehen können, Sai Babas Lehren zu unserer täglichen Praxis zu machen, müssen wir uns noch einiger Denkgewohnheiten entledigen, die uns daran hindern, auch nur einen Anfang in diese Richtung machen zu können. Weil das Denken jeder Handlung vorausgeht, können wir unseren Gedanken auf die Spur kommen, indem wir unsere Handlungen beobachten. Dazu müssen wir uns fragen: „Woher kommen unsere Gedanken und wie bilden sie sich?“

Beobachtungen zeigen uns, dass Gedanken aus mehreren verschiedenen Quellen entspringen. Viele Gedankenmuster bringen wir aus vergangenen Leben mit. Wir absorbieren die Gedanken unserer Eltern und vor allem die der Mutter, solange wir noch in ihrem Leib sind. Von Geburt an und durch die ganze Kindheit hindurch beziehen wir sie aus den Energiefeldern, die von den Gedanken der Mitglieder unserer Familie gebildet werden; daraus entstehen dann die notwendigen Lektionen, die wir in unserem gegenwärtigen Leben zu lernen haben. Später werden unsere Gedanken geprägt von den Lehrern in der Schule, durch die Bücher, die wir lesen, die religiösen Riten und Unterweisungen, denen wir ausgesetzt sind, und von der politischen Einstellung unserer Eltern. Schließlich kommen Ideen dazu, die wir uns selbst aneignen, sowie aus vielen anderen Quellen, aus denen wir unser ganzes Leben lang schöpfen. Und so legt sich Schicht auf Schicht, und wir werden zugedeckt mit falschen oder übernommenen Glaubenssätzen. Diese hindern uns daran, die eigene Wahrheit, die in uns verborgen liegt, auszudrücken oder auch nur zu entdecken, bis wir bewusst den Schritt machen und uns auf die Suche nach ihr begeben, indem wir allem erworbenem Wissen den Rücken kehren und uns öffnen für die inspirierte Weisheit, die uns dann zur Verfügung steht. Doch bevor wir unseren Geist diesem wahren Wissen öffnen können, müssen wir die dicken Schichten von Halbwahrheiten abtragen, die sich wie ein Schleier um uns legen und die Sicht auf das versperren, was wir wirklich sind. Die Voraussetzung dazu ist ein „spiritueller Striptease“.

In dieser ungesunden und verfahrenen Situation stellt sich noch ein weiteres Problem, das noch ernster ist. Alles, was auf dieser Welt je von menschlichen Wesen geschaffen wurde, entstand zuerst als Gedanke in einem Gehirn. Aus Gedanken entstehen sowohl greifbare Objekte als auch das, was sich auf anderen Ebenen manifestiert, sei es die physische, die mentale, die emotionale, die psychische oder die spirituelle. Wenn wir von einem bestimmten Konzept glauben, dass es auf Wahrheit basiere, dann stellen wir automatisch eine Verbindung her zu der universalen Gedankenform, die über viele Jahrhunderte um dieses Konzept herumgebaut wurde und die sich aus all den Gedanken zusammensetzt, die unzählige Individuen zu diesem Thema gedacht haben. So versteht man auch leicht, dass diese universalen Gedankenformen sehr, sehr mächtig geworden sind, denn mit jedem Gedankenbeitrag haben sie mehr und mehr Energie aufgenommen. Wenn unsere Gedanken auf der gleichen Wellenlänge sind wie die universalen, stellt sich automatisch eine Verbindung her. Doch da diese universalen Gedankenformen um vieles stärker sind als jede individuelle, werden wir von ihnen beeinflusst und schließlich beherrscht, und eine Befreiung ist nicht mehr möglich, auch wenn wir dies wünschen. Wir sind dann Sklaven einer Macht, die weitaus stärker ist als unser eigener Wille. Diese Bedingungen liefern eine Erklärung für gewisse Süchte, in deren eisernen Griff sich viele Menschen wiederfinden, ohne sich aus eigener Kraft daraus befreien zu können.

In dem Maße, in dem wir von diesen mächtigen Gedankenformen weiterhin beherrscht werden, tragen auch wir mit unseren eigenen Gedanken fortwährend zur Verfestigung ihrer Macht bei und werden deshalb mitschuldig, wenn sie andere Menschen dadurch noch stärker im Griff haben, die genau wie wir mit ihnen verbunden sind. Es ist ein wahrer Teufelskreis, den nur wenige durchschauen.

Wir als Einzelne sind verantwortlich für die Wirkung, die unsere Gedanken nicht nur auf uns und unser Leben ausüben, sondern auf die ganze Welt, auf jedes Ding und jedes Lebewesen, das sie bewohnt und mit uns teilt. Viele Menschen schrecken jedoch davor zurück, Verantwortung für ihre Gedanken zu übernehmen, und schieben lieber den Verhältnissen, anderen Menschen, dem Schicksal und einem ganzen Sack voll anderer Gründe ihres Unglücklichseins die Schuld zu. Dabei vergessen sie, dass alles, was einem Menschen zustößt, keineswegs Zufall ist. Jeder von uns hat in seinem jetzigen wie auch in vergangenen Leben eine unendliche Zahl an Gedanken ins Universum hinausgeschickt, mit den dazugehörigen Gefühlen, die sie begleiteten – einige davon positiven, aber sehr viele auch negativen Inhalts. Aus eigener Kraft werden wir uns jedoch kaum befreien können, und nur mit Hilfe des Höheren Selbst, das mit unbegrenzten Kraftpotenzialen verbunden ist, können wir hoffen, die Verbindung zu unterbrechen und unseren freien Willen wiederzuerlangen, der unser Geburtsrecht ist.

So haben die Anonymen Alkoholiker zum Beispiel viele Einzelpersonen erfolgreich aus der Sklaverei ihrer Alkoholsucht befreit, indem sie eine Höhere Macht um Hilfe anriefen. Aber nicht nur chemische Substanzen wie Alkohol und Drogen versklaven den Geist. Jede mächtige Gedankenform, die ein starker Glaube hervorbringt, dem viele Menschen anhängen, kann einen ähnlichen Effekt haben. Wenn ich das Höhere Selbst um Führung gebeten habe, dann standen seine Anweisungen oft in direktem Gegensatz zu meinen eigenen Überzeugungen, die sich aus vielen Quellen meines Lebens speisten. Auf diese Weise wurde mir beigebracht, dass ich zuallererst falsche Glaubenssätze korrigieren und durch höheres Wissen ersetzen müsse, das in einer besonderen Situation und zu einer bestimmten Zeit alleinige Gültigkeit habe. Diese Erfahrung liefert auch eine gute Erklärung für ein Phänomen, das mit Sai Baba zusammenhängt und schon viel Verwirrung gestiftet hat. Man weiß von ihm, dass er auf dieselbe Frage zweier Personen ganz verschiedene Antworten geben kann, ja dass er manchmal auf die gleiche Frage, welche die gleiche Person zu einer anderen Gelegenheit stellt, eine andere Antwort gibt.

Sai Baba ist für uns das perfekte Beispiel für jemanden, der immer mit dem wahren Wissen verbunden ist und weiß, in welcher Weise es zur jeweiligen Situation passt, der auch genau die Lebenseinstellung einer Person in dem Moment kennt, in dem er oder sie eine Antwort sucht. Wenn wir völlig hingegeben sind und offen für die richtige Antwort, dann werden wir sie auch bekommen; wenn wir jedoch weiterhin auf unseren eigenen Wünsche und Vorlieben bestehen, dann werden wir eine andere Antwort bekommen. Sai Baba sagt oft: „Ja, ja“, und deutet damit nicht unbedingt seine Zustimmung an. Vielmehr sieht er genau, dass die jeweilige Person sowieso nur das tun wird, was sie will, und lediglich Sai Babas Bestätigung dafür sucht.

Sai Baba ist hier, um uns beizubringen, wie wir mit der absolut verlässlichen Führung in Verbindung treten können, die für jeden zugänglich ist, der willens ist, sich von allen alten, vertrauten, aber übernommenen Glaubenssystemen zu lösen, um mit Geduld und Ausdauer auf die innere Suche zu gehen. Er ist in der Lage, diese Weisheit ad hoc hervorzubringen, denn er befindet sich im Fluss des Lebens und muss nicht, wie wir, eine Unmenge an Ererbtem loswerden. Er rät uns jedoch dringend, uns nicht allzu sehr an seine Gestalt zu binden und ihm persönlich nicht jene Fragen zu stellen, die von unserer inneren Quelle beantwortet werden können und sollen. Nur wenn wir uns dieser inneren Weisheitsquelle anvertrauen, entwickeln wir Selbstvertrauen, Selbstwert und Selbstmotivation.

Sai Baba erklärt, dass die uralten vedischen Gesänge aus Symbolworten komponiert seien, die mit Energie aus der ursprünglichen Quelle angereichert seien, aus der sie hervorgingen. Sie zu singen oder anderen beim Singen zuzuhören, kann uns mit diesem fortwährenden Wahrheitsfluss in Verbindung bringen, sofern wir uns von allen Instanzen lösen, die unsere Gedanken organisieren und uns in einer festen Ordnung halten wollen, und sofern wir bereit sind, uns ganz neu auf eine Verbindung zu dieser Quelle einzulassen. Es erinnert mich an ein Fließband, das ganz bestimmte Wahrheiten befördert, die nur zu einer bestimmten Zeit geliefert werden. Erfinder, Komponisten und Künstler aller Couleur haben Zugang zu diesem Strom der Inspiration gefunden und gelernt, eine spezifische Erkenntnis manifest werden zu lassen, die zu einer ganz bestimmten Zeit zur Verfügung stand. Später fanden sie dann oft heraus, dass zur gleichen Zeit auch andere mit derselben Wahrheit in Kontakt getreten waren. Dieses Phänomen erklärt auch, warum ein Erfinder in einem Teil der Welt eine augenscheinlich neue Idee im festen Glauben hervorbringt, er stehe damit allein, um dann zu erfahren, dass mehrere andere das gleiche „erfunden“ oder entdeckt haben, jeder für sich und ohne von den anderen zu wissen. Offensichtlich standen sie alle in Verbindung zu dem, was zu jenem Zeitpunkt offenbart wurde, und machten es der ganzen Welt zugänglich. Denn alle Erkenntnisse müssen auf einer persönlichen und ganz konkreten Ebene hervorgebracht werden, um anwendbar zu sein.

Wie also fangen wir an, nach innen auf die „stille kleine Stimme“ des Höheren Selbst zu horchen? Die Meister des Zen-Buddhismus sowie andere Lehrmeister in der ganzen Welt und in allen Jahrhunderten gaben ihren Schülern Übungen, die ihnen halfen, den Mind zu beruhigen, oder, wie sie sich oft ausdrückten, „eine Lücke zwischen zwei Gedanken zu schaffen“. Die Zen-Meister gaben ihren Schülern auch oft ein Koan (ein Lehrrätsel), das den geschäftigen Mind ablenken sollte, indem es ihm eine Beschäftigung bot. Er sollte an einem Rätsel arbeiten, das keine rationale Lösung hatte und deshalb unlösbar war. Wenn dann der Mind am Ende völlig erschöpft und konfus seine Anstrengungen aufgab, konnte eine Erkenntnis oder Inspiration an die Oberfläche dringen, denn der Mind war nicht länger vom Getümmel der Gedanken blockiert, die ihn sonst völlig besetzt halten.

Es gibt noch viele andere Methoden, um die unablässige Aktivität des Mind zu stoppen, damit er sich der Weisheit des Höheren Selbst öffnen kann. Sai Baba bietet ein Rezept an, das den Mind zur Konzentration zwingt und vor Dummheiten bewahrt. Er schlägt vor, dass wir immer einen der vielen Namen auf der Zunge haben, die sich auf Gott oder die universelle Lebenskraft beziehen. Er sagt dazu, dass, wenn der Mind von einer solchen Tätigkeit völlig in Anspruch genommen ist, die Inspiration aus dem wahren Selbst freie Bahn habe. Darüber hinaus bringt uns diese Methode dazu, dass wir uns immer mehr dem wahren Selbst anvertrauen und uns von falschen, fiktiven oder fehlerhaften Informationen abkehren.

Diese Methode erinnert mich an den kleinen Affen und seinen Herrn, den Drehorgelspieler. Solange das Äffchen hierhin und dorthin rennen und hüpfen durfte, geriet es in alle möglichen Schwierigkeiten. Aber als sein Herr es fest an der Leine hielt und ihm befahl, Hände zu schütteln oder seine Tricks zu zeigen, war sein Benehmen sehr ordentlich. Unser Mind, der in seinem Verhalten dem Affen so ähnlich ist, muss ebenfalls unter Kontrolle gehalten und produktiv beschäftigt werden, damit er uns mit seinem kontinuierlichen, sinnlosen Geplapper nicht völlig beherrscht.

Wenn mich jemand fragt, wie man mit dem Höheren Selbst in Kontakt kommt, dann denke ich immer daran, wie wir beim Autofahren die Gänge wechseln. Genauso einfach ist es, den Mind von seiner üblichen rastlosen Aktivität abzubringen und in einen empfänglicheren Zustand zu versetzen, in dem wir auf das achten können, was kommt, wenn wir um innere Führung bitten.

Da Sai Baba für mich meine wahre Identität repräsentiert, versuche ich tagsüber daran zu denken, ihn wiederholt anzurufen, und richte meine Aufmerksamkeit auf seine menschliche Gestalt in Indien, aber auch auf sein Ebenbild in meinem Herzen. Je mehr wir uns erinneren, uns ihm auf diese Weise zuzuwenden, desto näher werden wir der Vereinigung mit dem kommen, was wir wirklich sind. Zu Anfang ist es leichter, in Dualitäten zu denken, so als ob das Höhere Selbst getrennt von uns sei. Bis wir uns dann der dicken Gedankenschichten entledigt haben, der Erinnerungen, des Aberglaubens, der Glaubenssätze, Gewohnheiten und all jener hochgetürmten Hindernisse, die unser wahres Selbst daran hindern, sich durch uns auszudrücken. Schließlich und endlich werden wir frei sein und unseren Willen mit seinem Willen vereinigen können und so zu einem ganzen Wesen werden.