Das zweite Interview
Maryam Smith
Wer Gott erwählt, ist von Gott erwählt worden. (Sri Aurobindo)
Lass dies mein letztes Wort sein: Ich vertraue auf Deine Liebe. (Tagore)
Der allgegenwärtige Geist Gottes kann in unserer physischen Welt überall und jederzeit sofort in Erscheinung treten. Wir dagegen, die wir Gefangene unseres Körpers sind, müssen die weite Reise per Flugzeug unternehmen und erst an dem zauberhaften Ort landen, wo der fleischgewordene Geist Wohnung genommen hat.
Die kleine Stadt Puttaparthi ist ganz von Seiner heiligen Energie durchdrungen. Und da war ich wieder, die spirituelle Luft Indiens tief einatmend. Wie jedes Mal, begrüßte mich beim Betreten des Aschrams in den frühen Morgenstunden der warme Duft der Räucherstäbchen, vermischt mit dem frischen Duft von Jasminblüten. Der überirdische Klang der vedischen Hymnen und die mitreißenden Bhajans, die aus der weiten Halle drangen, und dazu noch die Vorfreude, Ihn wiedersehen zu dürfen – das alles versetzte meine Seele in eine Art heiligen Rauschzustand. Die körperliche Mühsal, der Mangel an Komfort damals (in den späten neunziger Jahren) waren nur nebensächliche Unbequemlichkeiten. Der tägliche Ablauf im Aschram funktionierte wie immer perfekt – alles um Seiner Liebe willen und unter Seinen aufmerksamen Augen.
Tausende von Menschen unterschiedlichsten kulturellen Hintergrunds, jeder Einzelne auf seine Weise exzentrisch und eigenwillig, was sowohl die Kleidung als auch den Charakter betraf, hatten sich dort aus nur einem einzigen Wunsch heraus versammelt – sie wollten darshan und sparshan (den Anblick und die Berührung) des Avatars erfahren. Wie im Märchen – einem andersartigen Märchen, das noch nie erzählt wurde – war Ihm die Rolle eines jeden schon bekannt. Und auch ich war eine der Darstellerinnen in diesem Bühnenstück. Eine unser Bewusstsein übersteigende Macht hatte es uns gestattet, in dieses von Ihr betriebene mythische Land einzutreten, welches – der überwiegenden Mehrheit unserer Zeitgenossen unbekannt bzw. von ihr nicht zur Kenntnis genommen – eine Parallelwelt zu unserer gewohnten modernen Welt darstellt.
Wenn ich mir das tägliche Leben dort anschaute, schien es mir, als ob die ganze Stadt in Ihm enthalten sei. Alle wachten auf und legten sich schlafen – nur für Ihn. Alle lebten – nur für Ihn. In den von Freude erfüllten frühen Morgenstunden kam es manchmal vor, dass ich beim Aufwachen sagte: „Baba, Baba, steh auf. Ich werde dich heute sehen!“ Aber langsam merkte ich, dass ich mit dem Tempo des Lebens dort nicht mithalten konnte. Seine Energie und Ausdauer waren einfach unvergleichlich. Oft kam es vor, dass ich den Darshan verpasste. Essen einzukaufen und zuzubereiten, meine Wäsche zu waschen und es mir ein bisschen heimisch zu machen, nahmen viel von meiner Energie in Anspruch.
Unsere Gruppe bestand aus zwei weiteren Frauen, die wie ich aus der Gegend von San Francisco Bay kamen, einer Frau aus Mountain View, einer Stadt in Nordkalifornien, einem jungen Mädchen aus Los Angeles in Südkalifornien, einem Ehepaar aus Reno, einem recht jovial wirkenden Europäer und einem Ehepaar aus Utah.
Das einzige unangenehme Vorkommnis hatte damit zu tun, dass ich bei meiner Ankunft im Aschram dem Mitarbeiter des Accomodation-Office gegenüber die Fassung verlor. Wegen der täglichen Anreise von einer sehr großen Zahl von Besuchern und der eingeschränkten Verfügbarkeit von Zimmern im Aschram mussten sich zwei oder auch mehr Besucher gleichen Geschlechts jeweils ein Zimmer teilen, je nachdem wie groß es war. Der Herr im Accomodation-Office sagte, ich müsse warten, bis mindestens eine weitere Dame angekommen sei, mit der ich ein Zimmer teilen könne. Da aber die meisten Devotees in Gruppen ankamen und auch zusammen wohnten, hätte es lange gedauert, bis eine weitere allein reisende Dame auftauchte. Ich war noch völlig erschöpft von der zweitägigen Reise und erwartete eigentlich, dass dieser Herr etwas Mitgefühl für meine Lage aufbringen würde, dass er mir den Schlüssel geben und meine künftige Mitbewohnerin später einfach in das Zimmer hinauf schicken würde. Diesen kleinen Zwischenfall erwähne ich deshalb, weil er in dem Interview, das unserer Gruppe gewährt wurde, eine Rolle spielte. Jede noch so kleine Begebenheit, gleich ob sie sich bei Ihm oder in weiter Ferne abgespielt hatte, war Ihm bekannt. Er hatte „tausend Augen“.
Schließlich kam ich im Ayurveda-Zentrum unter, das auch bei den folgenden Reisen mein Quartier bleiben sollte. Das Zentrum ist nur eine zehnminütige Rikscha-Fahrt vom Aschram entfernt. Es ist ein sehr schönes, friedliches Haus, das von einer freundlichen Familie betrieben wird. Langjährige Devotees erwähnen oft, Baba habe stets davon abgeraten, außerhalb des Aschrams zu wohnen (in Hotels oder Gästehäusern), aber für mich fühlte es sich richtig an, dort zu wohnen, wo ich wunderbare „Baba-Erfahrungen“ machte.
Am Freitag, den 30. Oktober, bekam unsere Gruppe ein Interview. Wieder einmal verspürte ich dieses unbeschreiblich erhebende Gefühl, unter den hundert Lichtern der Kronleuchter, die das innere Licht noch verstärkten, auf der Veranda zu sitzen und darauf zu warten, mit dem Geliebten zusammen zu sein. Als Er sich näherte, hob Er gelassen den Saum Seines Gewandes ein wenig, um die Stufen hinauf zu gehen, und wieder wurde mir bewusst, was für eine Größe und Macht sich in Seiner zarten Gestalt verbargen.